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OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 05.05.2017 - 16 E 1138/15

Es bestehen Bedenken gegen die Verwertbarkeit von nicht in ein Führungszeugnis für Behörden nach § 30 Abs. 5 Satz 1 BZRG aufgenommenen Straftaten im Rahmen der Anordnung zur Beibringung eines medizinischpsychologischen Gutachtens nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 8 FeV.

Zur Verpflichtung des Gerichts, in Verfahren, die die Erteilung einer Fahrerlaubnis zum Gegenstand haben, im Wege der Amtsermittlung den entscheidungserheblichen Sachverhalt aufzuklären.

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 11. November 2015 geändert. Dem Kläger wird für das erstinstanzliche Klageverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt.

Das Beschwerdeverfahren ist gerichtsgebührenfrei; außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

Gründe

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

Dem Kläger, der nach den von ihm dargelegten persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, ist für das erstinstanzliche Klageverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen. Die beabsichtigte Rechtsverfolgung bietet hinreichende Aussicht auf Erfolg und erscheint nicht mutwillig (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

Hinreichende Aussicht auf Erfolg bedeutet bei einer an Art. 19 Abs. 4 GG orientierten Auslegung dieses Begriffes einerseits, dass Prozesskostenhilfe nicht erst und nur dann bewilligt werden darf, wenn der Erfolg der beabsichtigten Rechtsverfolgung gewiss ist, andererseits aber auch, dass Prozesskostenhilfe verweigert werden darf, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen ist, aber doch fern liegt. Die Fachgerichte dürfen dabei die Anforderungen an die Erfolgsaussichten der beabsichtigten Rechtsverfolgung oder -verteidigung nicht überspannen. Die Prüfung der Erfolgsaussicht bei der Entscheidung über die Gewährung von Prozesskostenhilfe nach § 114 ZPO darf nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe vorzuverlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen.

Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 7. April 2000 - 1 BvR 81/00 -, NJW 2000, 1936 = juris, Rn. 15, und vom 10. August 2001 - 2 BvR 569/01 -, DVBl. 2001, 1748 = juris, Rn.19.

Nach diesen Maßstäben beurteilt ist dem Kläger nicht zuzumuten, die Weiterverfolgung seines Klagebegehrens aus finanziellen Gründen aufzugeben.

Es dürfte offen sein, ob der Kläger bei Vorliegen der über die Eignung nach § 11 Abs. 1 Satz 4 FeV hinausgehenden sonstigen Voraussetzungen die Erteilung der Fahrerlaubnis der Klassen D und D1 beanspruchen kann oder ob ihm diese wegen Nichteignung zu versagen ist. Jedenfalls ist zweifelhaft, ob der Beklagte nach § 11 Abs. 8 FeV auf die Nichteignung des Klägers schließen durfte. Nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV darf die Fahrerlaubnisbehörde auf die Nichteignung des Kraftfahrers zum Führen von Kraftfahrzeugen schließen, wenn dieser sich weigert, sich untersuchen zu lassen, oder das von der Fahrerlaubnisbehörde geforderte Gutachten nicht fristgerecht beibringt. Der Schluss auf die Nichteignung ist aber nur dann zulässig, wenn die Anordnung des Gutachtens formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig sowie hinreichend bestimmt ist.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Juni 2005 - 3 C 25.04 -, NJW 2005, 3081 = juris, Rn. 19; zu § 15b Abs. 2 StVZO a. F. siehe BVerwG, Urteil vom 5. Juli 2001- 3 C 13.01 -, NJW 2002, 78 = juris, Rn. 20; Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl. 2017, § 11 FeV Rn. 55.

Hier bestehen Bedenken hinsichtlich der materiellen Rechtmäßigkeit der Anordnung vom 19. Dezember 2014, ein medizinischpsychologisches Gutachten beizubringen, weil zu ihrer Begründung auch Verurteilungen des Klägers aus den Jahren 2007 und 2008 aufgeführt werden, die im nach § 30 Abs. 5 Satz 1 BZRG erteilten Führungszeugnis vom 17. November 2014 nicht mehr enthalten sind. Gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 8 FeV kann die Beibringung eines Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung (medizinischpsychologisches Gutachten) zur Klärung von Eignungszweifeln für die Zwecke nach § 11 Abs. 1 und 2 FeV angeordnet werden, wenn die besondere Verantwortung bei der Beförderung von Fahrgästen nach § 11 Abs. 1 FeV zu überprüfen ist. Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 4 FeV müssen u. a. Bewerber um die Fahrerlaubnis der Klasse D oder D1 auch die Gewähr dafür bieten, dass sie der besonderen Verantwortung bei der Beförderung von Fahrgästen gerecht werden. Der Bewerber hat diese durch die Vorlage eines Führungszeugnisses nach § 30 Abs. 5 Satz 1 BZRG nachzuweisen (vgl. § 11 Abs. 1 Satz 5 FeV). Daraus ist zwar nicht zu schließen, dass nur der Inhalt eines Führungszeugnisses für Behörden in die Prüfung des Merkmals des Gewährbietens einfließen darf. Vielmehr ist daran festzuhalten, dass es bei der Beurteilung des Gewährbietens entscheidend auf eine Würdigung der Gesamtpersönlichkeit des Bewerbers anhand aller bekannten verwertbaren Straftaten und Ordnungswidrigkeiten verkehrsrechtlicher und nichtverkehrsrechtlicher Art sowie sonstiger aktenkundig gewordener Vorkommnisse ankommt. Denn die Notwendigkeit des Zugänglichmachens eines Führungszeugnisses soll ersichtlich nur dazu dienen, auf einfache und verlässliche Weise das Gewährbieten i. S. v. § 11 Abs. 1 Satz 4 FeV zu überprüfen bzw. nachzuweisen.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 23. April 2013 - 16 B 1408/12 -, NJW 2013, 2217 = juris, Rn. 9 ff.; zu § 48 Abs. 4 Nr. 2a FeV (Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung): OVG NRW, Urteil vom 21. März 2014 - 16 A 730/13 -, NWVBl. 2014, 434 = juris, Rn. 24 ff., jeweils m. w. N.

Es spricht aber einiges dafür, bei Verurteilungen nur die (noch) in einem Führungszeugnis für Behörden aufgenommenen als verwertbar anzusehen und damit nicht alle im Zentralregister eingetragenen Verurteilungen. Denn § 11 Abs. 1 Satz 5 FeV sieht nach seinem Wortlaut nur die Vorlage des Führungszeugnisses für Behörden vor. Auch nach den Vorschriften des Bundeszentralregistergesetzes erhält die Fahrerlaubnisbehörde lediglich ein solches Führungszeugnis (vgl. auch § 2 Abs. 7 Satz 3 StVG). Sie zählt nicht zu den in § 41 Abs. 1 BZRG aufgezählten Behörden, denen auch von Eintragungen Kenntnis gegeben wird, die in ein Führungszeugnis nicht aufgenommen werden. Dem darin zum Ausdruck kommenden Willen des Gesetz- und Verordnungsgebers, wonach die Fahrerlaubnisbehörden im Hinblick auf Verurteilungen nur von den in ein Führungszeugnis für Behörden aufgenommenen erfahren, dürfte es widersprechen, wenn die Fahrerlaubnisbehörden - etwa mit dem Argument, sie handelten im Bereich der Gefahrenabwehr - zum Zweck der Prüfung des Gewährbietens i. S. v. § 11 Abs. 1 Satz 4 FeV auch ihnen zufällig bekannte, nicht (mehr) im Führungszeugnis enthaltene Verurteilungen heranzögen.

Vgl. zu nicht in ein Führungszeugnis aufzunehmende Verurteilungen: Bay. VGH, Beschluss vom 6. Oktober 2016 - 11 CS 16.1523 -, juris, Rn. 16; letztlich offen lassend: VG Mainz, Beschluss vom 5. Januar 2016 - 3 L 1528/15.MZ -, juris, Rn. 12.

Der Berücksichtigung der strafrechtlichen Verurteilungen des Klägers in den Jahren 2007 und 2008 steht demnach voraussichtlich entgegen, dass diese im nach § 30 Abs. 5 Satz 1 BZRG erteilten Führungszeugnis vom 17. November 2014 nicht mehr enthalten sind. Diese Verurteilungen werden wegen Fristablaufs (§ 34 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 BZRG) nicht mehr in das Führungszeugnis aufgenommen, im Zentralregister sind sie aber noch erfasst.

Zudem bestehen weitere Bedenken gegen die erste der beiden in der Gutachtenanordnung vom 19. Dezember 2014 enthaltenen Fragestellungen. Diese lautet: "Erfüllt Herr O. trotz der aktenkundigen Straftaten und der früheren festgestellten Erkrankungen die körperlichen und geistigen Anforderungen für das sichere Führen von Kraftfahrzeugen der Klassen D und D1 im Straßenverkehr?". Inwiefern die Straftaten aber Zweifel an der körperlichen und geistigen und nicht nur an der charakterlichen Eignung des Klägers begründen, erschließt sich nicht.

Vgl. zu ähnlichen Fragestellungen: VGH Bad.-Württ., Beschlüsse vom 30. Juni 2011 - 10 S 2785/10 -, NJW 2011, 3257 = juris, Rn. 8 ff., und vom 8. März 2013 - 10 S 54/13 -, NJW 2013, 1896 = juris, Rn. 9 ff.

Dass der Beklagte aller Voraussicht nach nicht nach § 11 Abs. 8 FeV auf die Nichteignung schließen durfte, berechtigt aber nicht ohne weiteres zu der Annahme, der Kläger biete die Gewähr dafür, der besonderen Verantwortung bei der Beförderung von Fahrgästen gerecht zu werden. Denn im Führungszeugnis des Klägers ist noch eine Verurteilung wegen Diebstahls aufgeführt. Zudem sind nicht strafrechtlich relevante Umstände wie die früher diagnostizierte psychische Erkrankung des Klägers bekannt. Vor diesem Hintergrund bleibt es dem Hauptsacheverfahren überlassen, der Frage nachzugehen, ob der Kläger die Gewähr dafür bietet, dass er der besonderen Verantwortung bei der Beförderung von Fahrgästen gerecht wird. Zwar ist es bei einem Antrag auf (Neu-)Erteilung einer Fahrerlaubnis Sache des Fahrerlaubnisbewerbers, seine Kraftfahreignung darzulegen; die Unerweislichkeit der Eignungsvoraussetzungen geht zu seinen Lasten. Es besteht keine Eignungsvermutung, d. h. die Erteilung der Fahrerlaubnis ist zu versagen, wenn die Eignung nicht positiv festgestellt werden kann.

Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 4. Juli 2007 - 16 B 666/07 -, vom 29. Juni 2009 - 16 E 1165/08 - und vom 8. Oktober 2009 - 16 E 245/09 -.

Allerdings berührt die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast nicht die Verpflichtung des Gerichts, im Wege der Amtsermittlung den entscheidungserheblichen Sachverhalt aufzuklären und ggf. die erforderlichen Beweise zu erheben, soweit der Prozessstoff einschließlich des Vorbringens der Beteiligten hinreichenden Anlass bietet.

Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 14. September 2001 - 19 E 267/01 -, vom 29. Juni 2009 - 16 E 1165/08 -, vom 8. Oktober 2009 - 16 E 245/09 - und vom 11. April 2017 - 16 E 132/16 -, juris, Rn. 42 f.

Letzteres dürfte hier der Fall sein. Hinreichend konkrete Anhaltspunkte, dass eine Beweisaufnahme mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Klägers ausgehen wird - nur dann käme nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts,

vgl. Kammerbeschluss vom 14. April 2003 - 1 BvR 1998/02 -, NJW 2003, 2976 = juris, Rn. 11,

ungeachtet der prozessrechtlichen Erforderlichkeit einer Beweiserhebung die Versagung der begehrten Prozesskostenhilfe in Betracht - sind für das Beschwerdegericht nicht ersichtlich. Schließlich ist auch nicht erkennbar, dass der Kläger sich einer medizinischpsychologischen Begutachtung aller Voraussicht nach auch weiterhin entziehen wird.

Das Beschwerdeverfahren ist nach Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses zum Gerichtskostengesetz gebührenfrei. Die Kostenentscheidung im Übrigen folgt aus § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).