OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 09.05.2019 - 16 B 1860/18
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 4. Dezember 2018 - mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung - geändert und die aufschiebende Wirkung der Klage 14 K 9217/18 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 22. Oktober 2018 wiederhergestellt sowie - soweit sie sich gegen die Zwangsgeldandrohung richtet - angeordnet.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 Euro festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde des Antragstellers ist zulässig und begründet. Aus den mit der Beschwerde dargelegten Gründen, auf die sich die gerichtliche Prüfung beschränkt (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), ergibt sich, dass dem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zu entsprechen ist.
Bei der Entscheidung über die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO sind die dem Rechtsbehelf bei summarischer Prüfung beizumessenden Erfolgsaussichten von erheblicher Bedeutung. Ergibt die Prüfung, dass der Widerspruch oder die Klage offensichtlich Erfolg haben wird, ist die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs wiederherzustellen. Im entgegengesetzten Fall der offensichtlich fehlenden Erfolgsaussicht des Rechtsbehelfs bleibt auch der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO erfolglos, sofern ein besonderes öffentliches Vollzugsinteresse besteht. Lässt sich weder in die eine noch in die andere Richtung ein offensichtliches Ergebnis absehen, ist eine von den Erfolgsaussichten des Hauptsacherechtsbehelfs gelöste Interessenabwägung vorzunehmen.
Auch wenn die Erfolgsaussichten der Klage des Antragstellers derzeit noch nicht abschließend eingeschätzt werden können, weil die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts zur vom Antragsteller in der Beschwerdebegründung angesprochenen, hier maßgeblichen Frage noch nicht veröffentlicht sind, sondern lediglich die Pressemitteilung Nr. 29/2019 vom 11. April 2019 zu den Urteilen vom selben Tag (3 C 13.17, 3 C 14.17, 3 C 7.18, 3 C 2.18, 3 C 8.18, 3 C 9.18) vorliegt, fällt die Interessenabwägung zugunsten des Antragstellers aus. Denn es spricht Überwiegendes dafür, dass die Klage des Antragstellers gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis Erfolg haben wird, so dass es dem Antragsteller nicht zuzumuten ist, bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens auf das Führen von Kraftfahrzeugen verzichten zu müssen.
Unter Zugrundelegung der Pressemitteilung des Bundesverwaltungsgerichts, auf die der Senat die Beteiligten hingewiesen hat, ist bei summarischer Prüfung davon auszugehen, dass der Antragsgegner nicht gemäß § 11 Abs. 7 FeV ohne weitere Sachverhaltsaufklärung die Nichteignung des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen annehmen und ihm die Fahrerlaubnis entziehen durfte. Der Pressemitteilung ist zu entnehmen, dass die Fahrerlaubnisbehörde bei einem gelegentlichen Konsumenten von Cannabis, der erstmals unter der Wirkung von Cannabis ein Kraftfahrzeug geführt hat, in der Regel nicht ohne weitere Aufklärung von fehlender Fahreignung ausgehen und ihm unmittelbar die Fahrerlaubnis entziehen darf. In solchen Fällen haben die Fahrerlaubnisbehörden nach den Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts gemäß § 46 Abs. 3 i. V. m. § 14 Abs. 1 Satz 3 FeV nach pflichtgemäßem Ermessen über die Einholung eines medizinischpsychologischen Gutachtens zur Klärung der durch diese Fahrt begründeten Zweifel an der Fahreignung zu entscheiden. Der Antragsteller ist als gelegentlicher Cannabiskonsument - soweit ersichtlich - erstmals damit aufgefallen, ein Kraftfahrzeug unter Cannabiseinfluss geführt zu haben. Die Vorlage eines medizinischpsychologischen Gutachtens ordnete der Antragsgegner - im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung des Senats,
vgl. OVG NRW, Urteil vom 15. März 2017 - 16 A 432/16 -, Blutalkohol 54 (2017), 328 = juris, Rn. 143 ff. -,
vor der Entziehung der Fahrerlaubnis nicht an.
Dass eine solche Anordnung - wie der Antragsgegner wohl meint - hier wegen der Höhe der in der Blutprobe des Antragstellers festgestellten Werte (4,3 ng/ml THC, 49 ng/ml THC-COOH) vor einer Entziehung der Fahrerlaubnis entbehrlich wäre, ist nicht ersichtlich. Zwar ist die weitere Aufklärung laut der Pressemitteilung des Bundesverwaltungsgerichts in den oben beschriebenen Fällen (nur) "in der Regel" erforderlich. Dafür, dass für die Annahme einer vom Regelfall abweichenden Ausnahme, in der die Fahrerlaubnis ohne weitere Aufklärung entzogen werden kann, an die THC- oder THC-COOH-Werte anzuknüpfen ist, ist der Pressemitteilung aber nichts zu entnehmen. Auch sonst lässt sich nicht erkennen, aus welchem Grund der Fall des Antragstellers anders liegen könnte als der vom Bundesverwaltungsgericht laut seiner Pressemitteilung angenommene Regelfall.
Das weitere Argument des Antragsgegners, einer medizinischpsychologischen Untersuchung müsse u. U. zwingend ein ausreichender (in der Regel sechsmonatiger) Abstinenzzeitraum vorausgehen und eine über Monate hinweg bestehende Gefahr durch Teilnahme der Betroffenen am Straßenverkehr sei nicht hinnehmbar, ist nicht nachvollziehbar. Zum einen lässt sich aus dieser grundsätzlichen Kritik an den Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts nicht ableiten, dass sie deshalb auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar wären. Zum anderen ist nicht ersichtlich, weshalb die Beantwortung der Frage, ob der Betroffene gelegentlichen Cannabiskonsum und Fahren trennt, einen Abstinenzzeitraum erfordern sollte. Im Übrigen entscheidet laut der Pressemitteilung des Bundesverwaltungsgerichts in diesen Fallkonstellationen die Fahrerlaubnisbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen nicht nur über die Anordnung der Beibringung eines medizinischpsychologischen Gutachtens, sondern auch über die hierbei einzuhaltende Frist (siehe § 11 Abs. 6 Satz 2 FeV). Diese richtet sich nach dem Zeitraum, der zur Erstellung des Gutachtens notwendig ist; in der Regel nicht zu berücksichtigen ist die vom Betroffenen benötigte Zeit zur Beseitigung von Eignungsdefiziten.
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 9. Juli 2015 - 16 B 660/15 -, juris, Rn. 12 f.; Dauer, in: Hentschel/König/ Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Auflage 2019, § 11 FeV Rn. 45, jeweils m. w. N.
Hat die Klage des Antragstellers hinsichtlich der Entziehung höchstwahrscheinlich Erfolg, gilt dies ebenso hinsichtlich der Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins sowie der daran anknüpfenden Zwangsgeldandrohung.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1 und 2 sowie § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).