VG Düsseldorf, Beschluss vom 24.11.2015 - 6 L 3298/15
1. Die Tat, die Anlass für eine Begutachtungsanordnung nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 FeV ist, muss tragfähige Rückschlüsse darauf zulassen, dass von dem Fahrerlaubnisinhaber zukünftig eine Gefährdung des Straßenverkehrs und anderer Verkehrsteilnehmer ausgehen könnte.
2. Aufgrund der Vielgestaltigkeit der als Tathandlungen in Betracht kommenden Verhaltensweisen bedarf es bei einer Verurteilung wegen Nachstellung in besonderem Maße einer Würdigung aller Umstände des Einzelfalls, um aus der Begehung dieser Straftat auf Anhaltspunkte für ein fahreignungsrelevantes Aggressionspotenzial schließen zu können.
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers (6 K 6701/15) gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 25. September 2015 wird hinsichtlich Ziffern 1 und 2 der Ordnungsverfügung (Fahrerlaubnisentziehung und Aufforderung zur Ablieferung des Führerscheins) wiederhergestellt und hinsichtlich der Zwangsgeldandrohung angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 2.500,00 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Dem am 00.0.1991 geborenen Antragsteller wurde am 11. Oktober 2010 eine Fahrerlaubnis der Klassen B, M, L und S erteilt.
Bis September 2012 führte der Antragsteller eine Beziehung mit Frau T. F. . Nach Beendigung der Beziehung lehnte Frau F. weitere Kontakte mit dem Antragsteller ab, was dieser nicht akzeptierte. Es kam zu einer Vielzahl von Vorfällen, bei denen Frau F. den Antragsteller unter anderem beschuldigte, sie zu verfolgen, körperlich und verbal anzugehen, sie zu beleidigen und zu bedrohen sowie ihre Sachen zu beschädigen. Mit Beschlüssen vom 20. November 2012 und 25. Februar 2014 (00 F 00/14) erließ das Amtsgericht N. -S. auf Antrag von Frau F. jeweils eine einstweilige Verfügung gegen den Antragsteller, laut der dieser sich ihr nicht mehr nähern durfte.
Mit rechtskräftigem Urteil vom 4. Mai 2015 (22 Cs-100 Js 315/13-253/13) verurteilte das Amtsgericht N. -S. den Antragsteller wegen Nachstellung in Tateinheit mit Sachbeschädigung und Beleidigung zu Lasten von Frau F. zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. In den Urteilsgründen werden Vorfälle an insgesamt 16 Tagen im Zeitraum vom 16. Februar 2013 bis zum 19. Mai 2014 aufgezählt, die im Einzelnen aus der nachfolgenden tabellarischen Auflistung hervorgehen:
Lfd. Nr.
Datum
Verhalten des Antragstellers laut Urteil des AG MG-S.
1.
16.02.2013
Eindringen in die Wohnung von Fr. F. ; aus Wut Zerschlagen eines Spiegels
2.
09.04.2013
Zertreten eines Briefkastens und eines Gartenzauns vor dem Haus von Fr. F.
3.
12.04.2013
Eindringen in die Wohnung von Fr. F. ; bei Gerangel Zerreißen ihrer Kleidung
4.
15.04.2013
Verfolgen der zu Fuß gehenden Fr. F. mit Pkw und Beleidigung aus dem Fahrzeug heraus
5.
03.09.2013
Auflauern und Beschimpfen
6.
03.02.2014
Mehrfaches Anrufen auf Mobiltelefon; bei Abnahme Beschimpfungen; später Auflauern und Treten gegen Tür des Pkw von Fr. F. , während sich diese im Fahrzeug befand
7.
24.02.2014
Beleidigen und Bespucken vor dem Sitzungssaal im Rahmen eines Gerichtstermins
8.
12.03.2014
Beleidigen
9.
29.03.2014
Mehrfaches Schlagen und Treten gegen die Wohnungstür von Fr. F. ; wiederholtes Anrufen
10.
04.04.2014
Auflauern und Querstellen des Fahrzeugs, um die mit einem Pkw fahrende Fr. F. Straße zum Anhalten zu zwingen; Beleidigungen aus Fahrzeug heraus; abends Beleidigungen vor der Wohnung von Fr. F. und wiederholtes Anrufen
11.
14.04.2014
Wiederholtes Anrufen auf Mobiltelefon; Beleidigungen
12.
22.04.2014
Schlagen mit Fäusten gegen die Wohnungstür von Fr. F.
13.
05.05.2014
Auflauern und Hinterherfahren mit Fahrzeug; Beleidigungen; später erneutes Aufsuchen und Beleidigungen
14.
17.05.2014
Querstellen des Pkw hinter Pkw von Fr. F. , damit diese sich nicht schnell entfernen konnte; Schreiben zahlreicher Nachrichten
15.
18.05.2014
Auflauern an Arbeitsstelle; Hupen und Beschimpfen
16.
19.05.2014
Bedrohung und Beleidigungen
Nach den Ausführungen des Amtsgerichts N. -S. sei bei der Strafzumessung zugunsten des Antragstellers zu berücksichtigen gewesen, dass dieser die Taten vollumfänglich eingeräumt habe. Darüber hinaus habe auch Frau F. zur Eskalation der Beziehung beigetragen. Im Rahmen der Strafaussetzung zur Bewährung sei zu beachten gewesen, dass der Antragsteller im Tatzeitraum gerade erst dem Alter eines Heranwachsenden entwachsen gewesen sei. Sämtliche Handlungen hätten der speziellen Beziehung zu Frau F. Rechnung getragen, die nunmehr befriedet sei, sodass weitere Straftaten von dem Antragsteller nicht zu erwarten seien. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt des Urteils des Amtsgerichts N. -S. vom 4. Mai 2015 (Bl. 117-123 der Beiakte Heft 1) Bezug genommen.
Mit Schreiben vom 30. Juni 2015, das dem Antragsteller am 3. Juli 2015 zugestellt wurde, forderte die Antragsgegnerin den Antragsteller zur Vorlage eines medizinischpsychologischen Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung innerhalb von zwei Monaten ab Zustellung auf. Zur Begründung der Gutachtenanordnung führte die Antragsgegnerin aus, dass sich aus den im Urteil des Amtsgerichts N. -S. genannten Vorfällen Anhaltspunkte ergäben, die auf eine normabweichende Aggressivität des Antragstellers hindeuteten. Das Gutachten müsse insbesondere zu der Frage Auskunft geben, ob trotz der Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial zu erwarten sei, dass der Antragsteller die körperlichen und geistigen Anforderungen an das sichere Führen eines Kraftfahrzeuges der Klassen AM, B und L erfülle. Die Antragsgegnerin wies den Antragsteller darauf hin, dass sie bei Nichtvorlage des Gutachtens auf seine Nichteignung zum Führen von Kraftfahrzeugen schließen und ihm die Fahrerlaubnis entziehen dürfe.
Der Antragsteller legte das verlangte Gutachten nicht vor. Daraufhin teilte die Antragsgegnerin dem Antragsteller mit, dass sie beabsichtige, ihm die Fahrerlaubnis zu entziehen und gab ihm Gelegenheit zur Stellungnahme.
Mit Bescheid vom 25. September 2015 entzog die Antragsgegnerin dem Antragsteller unter Anordnung der sofortigen Vollziehung aufgrund der Nichtvorlage des angeforderten Gutachtens die Fahrerlaubnis. Sie forderte ihn zur Ablieferung seines Führerscheins innerhalb von sieben Tagen nach Zustellung der Verfügung auf und drohte für den Fall der Zuwiderhandlung ein Zwangsgeld in Höhe von 500,00 Euro an. Außerdem setzte sie Verfahrenskosten in Höhe von insgesamt 170,95 Euro fest.
Der Antragsteller hat gegen den Bescheid der Antragsgegnerin am 5. Oktober 2015 Klage erhoben (6 K 6701/15), über die noch nicht entschieden ist, und gleichzeitig einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt. Zur Begründung seiner Klage und seines Antrags trägt er vor, dass er das angeforderte medizinischpsychologische Gutachten aus finanziellen Gründen nicht vorgelegt habe. Die von der Antragsgegnerin zur Begründung der Gutachtenanordnung herangezogenen Vorfälle aus dem Urteil des Amtsgerichts N. -S. rechtfertigten die Anordnung nicht. Die Taten seien das Ergebnis einer Beziehungsstreitigkeit gewesen. Dabei habe nach den Feststellungen des Amtsgerichts auch Frau F. zur Eskalation der Beziehung beigetragen. Die abgeurteilten Taten lägen außerdem bereits lange zurück. Der Antragsteller sei im Übrigen bislang noch nicht im Straßenverkehr auffällig geworden.
Der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung seiner Klage vom 5. Oktober 2015 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 25. September 2015 anzuordnen bzw. wiederherzustellen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung führt sie aus, dass die Häufigkeit und die Zeitdauer der im Urteil des Amtsgerichts N. -S. genannten Vorfälle auf eine normabweichende Aggressivität des Antragstellers hinwiesen. Selbst wenn Frau F. zu der Eskalation beigetragen habe sollte, rechtfertige dies nicht die Vermutung, der Antragsteller beherrsche seine Affekte, insbesondere da es sich nicht um eine einmalige Handlung gehandelt habe. Die entstandenen Bedenken könnten auch nicht dadurch ausgeräumt werden, dass der Antragsteller über längere Zeit nicht auffällig geworden sei.
II.
Der auf § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) gestützte Antrag des Antragstellers hat Erfolg. Er ist zulässig und begründet.
Auf den Antrag des Antragstellers war die aufschiebende Wirkung seiner fristgemäß erhobenen Klage (6 K 6701/15) gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 25. September 2015 gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 2. Var. VwGO wiederherzustellen (Fahrerlaubnisentziehung und Aufforderung zur Ablieferung des Führerscheins) bzw. gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Var. VwGO anzuordnen (Zwangsgeldandrohung). Die Klage im Hauptsacheverfahren wird voraussichtlich erfolgreich sein, weil sich die angegriffene Ordnungsverfügung bei der im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung als offensichtlich rechtswidrig erweist und den Antragsteller in seinen Rechten verletzt (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Das Gericht kann gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 2. Var. VwGO die aufschiebende Wirkung einer Klage wiederherstellen, wenn die Behörde - wie hier - gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehung ihrer Verfügung angeordnet und damit die der Klage gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO grundsätzlich zukommende aufschiebende Wirkung beseitigt hat. Eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung im Sinne von § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Var. VwGO kommt in Betracht, wenn die aufschiebende Wirkung der Klage - wie hier für die Androhung des Zwangsgeldes gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 112 des Justizgesetzes Nordrhein-Westfalen (JustG NRW) - kraft Gesetzes entfällt.
Die Begründetheit eines solchen Antrags beurteilt sich in den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO danach, ob die Anordnung der sofortigen Vollziehung formell ordnungsgemäß getroffen wurde und ob das öffentliche Interesse an der Vollziehung das private Interesse an einer Aussetzung der Maßnahme überwiegt.
Bei der vom Gericht vorzunehmenden Abwägung der widerstreitenden Interessen an der Aussetzung der Maßnahme einerseits und an ihrer Vollziehung andererseits sind insbesondere die Erfolgsaussichten der Klage im Hauptsacheverfahren zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes allein mögliche und gebotene summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, dass der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist, überwiegt das private Interesse an der Aussetzung der Vollziehung. Denn an der Vollziehung rechtswidriger hoheitlicher Maßnahmen kann kein öffentliches Interesse bestehen. Ist der Verwaltungsakt hingegen offensichtlich rechtmäßig, überwiegt in den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO das öffentliche Interesse an einem Sofortvollzug nur dann, wenn zusätzlich ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung besteht, das über jenes Interesse hinausgeht, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt.
Unter Beachtung dieser Grundsätze fällt die Interessenabwägung vorliegend zu Gunsten des Antragstellers aus. Bei summarischer Prüfung nach Maßgabe des derzeitigen Sach- und Streitstandes ist davon auszugehen, dass die Entziehung der Fahrerlaubnis offensichtlich rechtswidrig ist.
Rechtsgrundlage der Fahrerlaubnisentziehung ist § 3 Abs. 1 Satz 1 Straßenverkehrsgesetz (StVG) i.V.m. §§ 46 Abs. 1, Abs. 3, 11 Abs. 8 Satz 1 Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV). Erweist sich der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, hat ihm die Fahrerlaubnisbehörde gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 FeV die Fahrerlaubnis zu entziehen. Gemäß § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV darf die Fahrerlaubnisbehörde auf die Nichteignung des Betroffenen schließen, wenn dieser sich weigert, sich untersuchen zu lassen oder er das von ihm geforderte Gutachten nicht fristgerecht beibringt.
Aus der Nichtbeibringung eines von der Fahrerlaubnisbehörde verlangten Gutachtens darf aber nur dann auf die Fahrungeeignetheit des Betroffenen geschlossen werden, wenn die Anordnung, ein solches Gutachten beizubringen, in formeller und materieller Hinsicht rechtmäßig, namentlich anlassbezogen und verhältnismäßig war und die nicht fristgemäße Vorlage des Gutachtens ohne ausreichenden Grund erfolgte.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Juni 2005 - 3 C 21/04 -, juris Rn. 22; OVG NRW, Beschlüsse vom 14. November 2014 - 16 E 886/14 -, juris Rn. 5 und vom 5. Januar 2011 - 16 B 1695/10 -; VG Düsseldorf, Urteil vom 10. Februar 2012 - 6 K 5127/10 -, juris Rn. 17.
Bei Zugrundelegung dieser Maßstäbe kann nach derzeitigem Sachstand nicht von der Kraftfahrungeeignetheit des Antragstellers ausgegangen werden. Die Anordnung der Antragsgegnerin vom 30. Juni 2015 ist nach Aktenlage materiell rechtswidrig. Die Voraussetzungen der allein als Rechtsgrundlage der Gutachtenanordnung in Betracht kommenden §§ 46 Abs. 3, 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 FeV liegen nicht vor.
Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 FeV kann die Fahrerlaubnisbehörde die Beibringung eines Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung (medizinischpsychologisches Gutachten) zur Klärung von Eignungszweifeln anordnen bei Straftaten, die im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung stehen, insbesondere wenn Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial bestehen. Dieser Regelung liegt die Annahme zugrunde, dass besonders aggressive Straftäter auch bei konflikthaften Verkehrssituationen (etwa bei Fahrfehlern anderer) emotional impulsiv handeln und dadurch das Risiko einer Verkehrssituation erhöhen, sowie eigene Bedürfnisse aggressiv durchsetzen werden. Daneben soll auch bei Personen, die sich gleichgültig gegenüber sozialen Normen, Regeln und den Rechten anderer verhalten, damit zu rechnen sein, dass sie entsprechende Verkehrsstraftaten begehen.
Vgl. hierzu Schubert/Schneider/Eisenmenger/Stephan (Hrsg.), Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahreignung. Kommentar, 2. Auflage 2005, Kommentar zu Ziffer 3.14, S. 209.
§ 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 FeV charakterisiert die Straftaten, die Anlass für die Anordnung einer medizinischpsychologischen Begutachtung sein können, einschränkend dahingehend, dass sie im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung stehen müssen.
Bei der Beurteilung, ob die gegebenen Anknüpfungstatsachen Zweifel hinsichtlich der Kraftfahreignung begründen, ist stets dem Spannungsverhältnis zwischen dem Interesse der Allgemeinheit an der Sicherheit des Straßenverkehrs und dem aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ableitbaren Auftrag zum Schutz vor erheblichen Gefahren für Leib und Leben einerseits und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Fahrerlaubnisinhabers (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) andererseits Rechnung zu tragen. Denn die letztlich zum Nachweis der Kraftfahreignung erforderliche Beibringung eines medizinischpsychologischen Gutachtens stellt einen erheblichen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht dar. Dem Betroffenen wird zugemutet, anderen Einblick in Kernbereiche seiner Persönlichkeit zu geben. Die bei dem psychologischen Teil der Untersuchung ermittelten Befunde zum Charakter des Betroffenen berühren seine Selbstachtung ebenso wie sein gesellschaftliches Ansehen. Er muss die Einzelheiten in einer verhörähnlichen Situation offenlegen.
Siehe hierzu ausführlich BVerfG, Beschluss vom 24. Juni 1993 - 1 BvR 689/92 -, juris.
Ein solcher Eingriff ist nur gerechtfertigt, wenn sich die Anforderung eines Gutachtens allein auf solche Mängel bezieht, die bei vernünftiger, lebensnaher Einschätzung die ernsthafte Besorgnis begründen, dass der Betroffene sich als Führer eines Kraftfahrzeugs nicht verkehrsgerecht und umsichtig verhalten wird. Der Entscheidung über die Anforderung eines medizinischpsychologischen Gutachtens müssen tatsächliche Feststellungen zugrundegelegt werden, die einen Eignungsmangel als naheliegend erscheinen lassen.
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. Juni 1993 - 1 BvR 689/92 -, juris; BVerwG, Urteil vom 9. Juni 2005 - 3 C 25/04 -, juris.
§ 11 Abs. 3 Satz 1 FeV ist vor diesem Hintergrund unter Berücksichtigung seines Sinn und Zwecks auszulegen. Die Vorschrift dient - wie § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG und § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV, die die Fahrerlaubnisbehörde zur Entziehung der Fahrerlaubnis ermächtigen - dem Schutz der Allgemeinheit und der Individualrechtsgüter der Straßenverkehrsteilnehmer vor unfähigen oder ungeeigneten Führern solcher Fahrzeuge, für die eine Fahrerlaubnis benötigt wird.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. September 1995 - 11 C 34/94 -, juris Rn. 9
Dies zugrunde gelegt, kann aus mangelnder Rechtstreue allein nicht darauf geschlossen werden, dass sich ein Fahrerlaubnisinhaber (auch) im Straßenverkehr nicht regelgerecht verhalten wird. Aus den begangenen Straftaten müssen sich vielmehr straßenverkehrsrechtlich relevante Umstände ergeben. Entscheidend ist, ob aufgrund der bereits verübten kriminellen Delikte einer Person unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls die Vorhersage zulässig ist, dass von dieser Person eine zukünftige Gefährdung des Straßenverkehrs und anderer Verkehrsteilnehmer ausgeht.
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 7. Februar 2013 - 16 E 1257/12 -; Urteil der Kammer vom 20. Februar 2014 - 6 K 6737/12 -, juris Rn. 63 ff.; siehe auch OVG NRW, Beschluss vom 4. November 2014 - 16 E 179/14 -, wonach ein die Kraftfahreignung wegen der Begehung sexueller Delikte ausschließendes medizinischpsychologisches Gutachten den Zusammenhang zwischen der Wiederholungsgefahr für diese Delikte und der Kraftfahreignung aufzeigen muss.
Die Tat, die Anlass der Gutachtenanordnung ist, muss tragfähige Rückschlüsse darauf zulassen, dass der Betroffene zukünftig bereit ist, die Sicherheit des Straßenverkehrs seinen eigenen Interessen unterzuordnen.
Vgl. Bay. VGH, Beschluss vom 5. Juli 2012 - 11 C 12.874 -, juris Rn. 22, 27.
Im Zusammenhang mit § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 FeV bedeutet dies: Die Begehung von Straftaten lässt dann auf ein fahreignungsrelevantes hohes Aggressionspotenzial schließen, wenn diese auf eine Neigung zu planvoller, bedenkenloser Durchsetzung eigener Anliegen ohne Rücksicht auf berechtigte Interessen anderer oder eine Bereitschaft zu ausgeprägt impulsivem Verhalten hindeuten und dabei Verhaltensmuster deutlich werden, die sich so negativ auf das Führen von Kraftfahrzeugen auswirken können, dass die Verkehrssicherheit gefährdet wird.
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 30. März 2015 - 16 A 1741/13 -, juris Rn. 37 unter Bezugnahme auf die Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, Bundesanstalt für Straßenwesen, gültig ab 1. Mai 2014, Kapitel 3.16, S. 80.
Ein hohes Aggressionspotenzial kommt abstrakt betrachtet regelmäßig in solchen Straftaten zum Ausdruck, die sich durch Aggression gegen Personen oder Sachen ausdrücken.
Vgl. Urteil der Kammer vom 20. Februar 2014 - 6 K 6737/12 -, juris Rn. 45 f. unter Bezugnahme auf Schubert/Schneider/Eisenmenger/Stephan, Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahreignung. Kommentar, 2. Auflage 2005, Kommentar zu Ziffer 3.14, S. 209; siehe auch Müller, Probleme des Fahreignungsrechts und Pflichtmitteilungen der Polizei in: DAR 2013, 69 (71 f.); Tepe, Aggressionspotenzial im Fahrerlaubnisrecht in: NZV 2010, 64 (66).
Es ist stets auf die Gesamtumstände zu achten, weil etwa ein einmaliges Verhalten in einer Ausnahmesituation nicht in jedem Fall Rückschlüsse auf ein allgemein bestehendes Aggressionspotenzial zulässt.
Vgl. Wendlinger, Fahrerlaubnisrecht: Ermessensausübung bei der Überprüfung der charakterlichen Fahreignung, in: NZV 2006, 505 (509) mit weiteren Nachweisen.
Nach der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen lassen jedenfalls Raub, schwere und gefährliche Körperverletzungen sowie Vergewaltigung, das heißt Straftaten, die sich in erheblicher Weise gegen die körperliche Integrität einer anderen Person richten, auf ein hohes Aggressionspotenzial schließen.
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 30. März 2015 - 16 A 1741/13 -, juris Rn. 37 unter Bezugnahme auf die Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, Bundesanstalt für Straßenwesen, gültig ab 1. Mai 2014, Kapitel 3.16, S. 80.
All dies zugrunde gelegt, begründen die dem Urteil des Amtsgerichts N. -S. vom 4. Mai 2015 zugrundeliegenden Taten, auf die allein sich die Untersuchungsanordnung stützt und auf die abzustellen ist,
vgl. OVG NRW, Beschluss vom 10. September 2014 - 16 B 912/14 -, juris Rn. 13,
nach derzeitiger Sachlage keine hinreichenden Anhaltspunkte für ein kraftfahreignungsrelevantes Aggressionspotenzial des Antragstellers im Sinne von § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 FeV, welche die Gutachtenanordnung der Antragsgegnerin vom 30. Juni 2015 rechtfertigen könnten.
Der Antragsteller hat im Zeitraum von Februar 2013 bis Mai 2014 wiederholt Straftaten zu Lasten seiner ehemaligen Freundin, Frau T. F. , begangen, die zu seiner Verurteilung wegen Nachstellung (§ 238 Strafgesetzbuch (StGB)) in Tateinheit mit Beleidigung (§ 185 StGB) und Sachbeschädigung (§ 303 StGB) geführt haben. Der Straftatbestand der Nachstellung zählt aufgrund der Vielgestaltigkeit der als Tathandlungen in Betracht kommenden Verhaltensweisen, die von der massenhaften Versendung von E-Mails bis zur Tötung des Opfers reichen können, nicht grundsätzlich - wie etwa die Tatbestände der Vergewaltigung oder des Raubes - zu den Delikten, in denen eine besondere Aggressivität zum Ausdruck kommt. Nachstellen ("Stalking") spielt sich im Grenzbereich zwischen kriminellem Verhalten, psychopathologischer Auffälligkeit, misslungener Aufarbeitung von Lebenskrisen und sozialer Lästigkeit ab.
Vgl. Fischer, StGB, 62. Aufl. 2015, § 238 Rn. 3.
Daher bedarf es bei einer Verurteilung wegen Nachstellung in besonderem Maße einer Würdigung aller Umstände des Einzelfalls, bei der vor allem die von dem Betroffenen vorgenommenen Tathandlungen zu berücksichtigen sind, um aus der Begehung dieser Straftat auf Anhaltspunkte für ein fahreignungsrelevantes Aggressionspotenzial schließen zu können. Diese Einzelfallbetrachtung fällt nach Aktenlage zu Gunsten des Antragstellers aus. Denn den im Urteil des Amtsgerichts N. -S. genannten Taten lassen sich keine für die Anordnung einer medizinischpsychologischen Begutachtung hinreichenden Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass von dem Antragsteller zukünftig eine Gefährdung des Straßenverkehrs und anderer Verkehrsteilnehmer ausgehen könnte.
Die Taten des Antragstellers sind nach Aktenlage nicht geeignet, grundsätzliche Zweifel an seiner Kraftfahreignung zu begründen, da sie allein das Ergebnis eines mittlerweile beendeten Beziehungskonfliktes waren. Sämtliche Taten des Antragstellers richteten sich gegen Frau F. und hatten ihre Wurzel in der besonderen Beziehung zu ihr, zu deren Eskalation nach den Feststellungen des Amtsgerichts N. -S. auch Frau F. selbst beigetragen hatte. Die Beziehung ist nach den Ausführungen des Amtsgerichts mittlerweile "befriedet", woraus das Amtsgericht im Rahmen der Strafaussetzung zur Bewährung den Schluss gezogen hat, dass von dem Antragsteller zukünftig keine Straftaten mehr zu erwarten seien. Hinzu kommt - worauf das Amtsgericht N. -S. zutreffend hingewiesen hat -, dass der 1991 geborene Antragsteller im Zeitpunkt der Tatbegehung gerade erst dem Alter eines Heranwachsenden entwachsen war. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts machte er in der Hauptverhandlung einen deutlich gereiften Eindruck.
Demgegenüber ist nicht ersichtlich, dass der Antragsteller, der vor der Verurteilung durch das Amtsgericht N. -S. weder strafrechtlich noch verkehrsrechtlich in Erscheinung getreten ist, auch unabhängig von dem persönlichen, mittlerweile beendeten Konflikt mit Frau F. innerhalb oder außerhalb des Straßenverkehrs unbeherrschte Verhaltensweisen gezeigt hat. Dabei verkennt das Gericht nicht, dass sich die Taten des Antragstellers über einen langen Zeitraum von mehr als einem Jahr erstreckt haben und von einer besonderen Hartnäckigkeit waren. Dies ändert jedoch nichts daran, dass sie Ausdruck eines persönlichen Konfliktes waren, der den Antragsteller in eine Ausnahmesituation gebracht hat, die keine allgemeinen Schlüsse im Hinblick auf seine (fehlende) Kraftfahreignung zulässt. Dies gilt umso mehr, als seine Taten im Rahmen der Vielgestaltigkeit möglicher Tathandlungen der Nachstellung nicht durch eine besonders hohe kriminelle Energie gekennzeichnet waren. Der Antragsteller hat zwar teilweise auch aggressive Verhaltensweisen gezeigt, insbesondere in Form von Sachbeschädigungen und Beleidigungen. Einige der im Urteil des Amtsgerichts N. -S. genannten Taten sind aber auch als in erster Linie sozial lästig einzustufen, beispielsweise das wiederholte Anrufen und Versenden von Nachrichten. Eine Verurteilung wegen Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit von Frau F. , geschweige denn wegen schwerer Straftaten wie Raub, schwerer oder gefährlicher Körperverletzung oder Vergewaltigung, ist nicht erfolgt.
Auch die Tatsache, dass der Antragsteller einzelne der Taten zu Lasten von Frau F. (auch) im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr begangen hat, zum Beispiel durch Querstellen seines Pkw, führt zu keinem anderen Ergebnis. Denn es ist nichts dafür ersichtlich, dass dabei auch andere, unbeteiligte Verkehrsteilnehmer irgendeiner Gefährdung ausgesetzt gewesen wären. Auch diese Taten waren vielmehr allein Ausdruck des persönlichen Konfliktes des Antragstellers mit Frau F. , wiesen aber keinen spezifischen Bezug zu seiner Kraftfahreignung auf. Die Verwendung des Pkw geschah lediglich bei Gelegenheit der Nachstellung, welche letztlich das alleinige Ziel des Antragstellers war. Die Tatsache, dass der Antragsteller - in der Vergangenheit - (auch) seinen Pkw im Rahmen eines mittlerweile beendeten persönlichen Konfliktes eingesetzt hat, lässt nicht den Schluss zu, dass er sich in Zukunft in der Anonymität des alltäglichen Straßenverkehrs verkehrsgefährdend oder aggressiv verhalten wird.
Da die Entziehung der Fahrerlaubnis bei summarischer Prüfung offensichtlich rechtswidrig ist, sind auch die weiteren, darauf beruhenden Anordnungen in dem Bescheid vom 25. September 2015 (Aufforderung zur Ablieferung des Führerscheins gemäß § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG i.V.m. § 47 Abs. 1 FeV; Androhung des Zwangsgeldes gemäß §§ 55, 59, 63 Verwaltungsvollstreckungsgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen (VwVG NRW)) als rechtswidrig anzusehen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 und 2 Gerichtskostengesetz (GKG). Die Bedeutung der Sache wird im Hauptsacheverfahren mit dem Auffangstreitwert des § 52 Abs. 2 GKG angesetzt, da der Antragsteller nicht in qualifizierter Weise, etwa als Berufskraftfahrer, auf die Fahrerlaubnis angewiesen ist. In Verfahren betreffend die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ermäßigt sich der danach zu berücksichtigende Betrag von 5.000,- Euro aufgrund der Vorläufigkeit der Entscheidung um die Hälfte. Das Gericht geht - trotz der Regelung in § 6a Abs. 3 Satz 1 StVG i.V.m. § 22 Abs. 1 Verwaltungskostengesetz (VwKostG) in seiner bis zum 14. August 2013 geltenden Fassung - mit Blick auf § 80 Abs. 6 VwGO davon aus, dass die Kostenfestsetzung nicht Gegenstand des Eilverfahrens ist und sich damit nicht streitwerterhöhend auswirkt.